Der Genuss der Vergebung (Ameneh Bahrami)
Der international aufsehenerregende Fall Ameneh Bahramis hat ein humanes Ende gefunden. Die 32-jährige Iranerin erblindete, nachdem ihr ehemaliger Kommilitone Madschid Mowahedi 2004 ein Säurenattentat auf sie verübte. Sie hatte zuvor seinen Heiratsantrag abgelehnt. Ein iranisches Gericht verurteilte den Täter 2008 nach den Bestimmungen des "Islamischen Strafgesetzes" zur Qisas-Strafe, die es erlaubt, dem Täter gleiches Leid zuzufügen. Die Vollstreckung wurde allerdings immer wieder vertagt.
Das "Islamische Strafgesetz" des Iran sieht für Delikte der Tötung und Körperverletzung eine gleichartige Vergeltung oder ein Blutgeld vor und nicht
Freiheitsentzug oder Resozialisierungsmaßnahmen wie in modernen westlichen Staaten.
Das Blutgeld, das einer Frau gezahlt wird, ist dabei halb so hoch wie das Blutgeld für einen Mann. Anders als bei Diebstahl oder Raubüberfall, wo gesetzlich festgelegte Strafen
gelten, überlässt Irans Strafgesetzbuch bei Tötung und Körperverletzung dem Opfer oder seinen Angehörigen die Strafbestimmung.
Mit anderen Worten: Tötungsdelikte gelten als private Rechtsgegenstände, die unter Tätern und Opfern oder unter deren Angehörigen durch das Qisas- oder Blutgeldprinzip gelöst
werden. Die Rechtsprechung schreibt keinen Strafkatalog für diese schwerwiegenden Delikte fest. Wenn die Geschädigten von Vergeltung absehen, kann der Richter eine Haftstrafe
anordnen, was allerdings nicht zur gängigen Praxis der Justiz gehört. Meist wird der Täter kurzerhand freigelassen. Der Staat sendet damit folgendes Signal: Wenn ihr
nicht vergeltet, lassen wir die Täter erneut auf euch los.
Ameneh blieben nur zwei Optionen, Vergebung oder Rache. Die Iraner rechneten fest damit, dass sie sich für die Rache entscheiden würde. Sie soll auch in der Öffentlichkeit, im Bus
oder auf der Straße zu Qisas aufgemuntert worden sein. Sieben Jahre lang hat Ameneh auf die Qisasbestrafung Mowahedis insistiert. Sie war in schwieriger finanzieller Lage, lebte
häufig in Barcelona und hatte nach 17 Operationen auch ihr rechtes Auge verloren.
Am vergangenen Sonntag machte sie den entscheidenden Rückzieher und überraschte viele Iraner.
Sie habe sich jahrelang angestrengt, um das Qisas-Urteil für ihren Peiniger zu erzielen, und um damit jedem potenziellen Täter zu zeigen, dass er nach einem Säurenattentat mit der
Blendung zu rechnen habe. "Aber heute habe ich vergeben. Das war mein Recht. Ein anderes Opfer würde das morgen vielleicht nicht tun.
Ich aber habe ein gutes Gefühl", sagte Ameneh Bahrami.
Nicht viele Amenehs gibt es im Iran. Ihre Entscheidung wird gewürdigt, doch hält man die Qisas-Strafe zwecks Abschreckung der Täter für angemessen. Viele Iraner haben sich mit dem Prinzip Auge-um-Auge angefreundet.
Seit der Machtübernahme der Ayatollahs 1979 gilt dieses Scharia-Prinzip im vollständigen Umfang im Gottesstaat und wird fast täglich praktiziert. Unlängst hob der Leiter des Stabes für Menschenrechte in der Judikative, Mohammad Dschawad Laridschani, noch einmal hervor, wie wichtig Quisas für die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung sei. Eine Einstellung der Steinigung würde nur den unehelichen Geschlechtsverkehr verbreiten.
Die gesamte Führungsriege des Regimes teilt diese Ansicht. Die häufige Vollstreckung von Hinrichtungen mitten in der Stadt, oftmals am Kran, das öffentliche Auspeitschen vor den
Augen von Kindern und Jugendlichen führt keineswegs dazu, dass die Akzeptanz dieser Rechtsprechung schwindet. Nicht selten kommt es vor, dass die Zahl der Zuschauer einer
öffentlichen Hinrichtung die eines Fußballspiels der iranischen Profiliga übersteigt. In etlichen Fällen haben Angehörige des Opfers, in einem Fall sogar ein 13jähriger Sohn,
den Hocker unter den Füßen des zum Tode Verurteilten weggezogen.
Morde, Raubüberfälle und Vergewaltigungen haben in den letzten Jahren im Iran erschreckend zugenommen. Selbst Polizisten sehen bisweilen minutenlang zu, wie ein Opfer überfallen
und erstochen wird. Die Zeugen ziehen es vor, die Szene mit einem Handy festzuhalten und sie schnell ins Netz zu stellen, ohne zu bedenken, dass sie selbst eines Tages
Hauptdarsteller eines Handyfilms werden könnten.
Irans ethisch-moralischer Niedergang basiert auf einer Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und rigidem rechtlich-politischen System. Die Gesetzeshüter tun jedoch so, als seien die
Täter von außerhalb der Gesellschaft über sie hergefallen.
Nach dem Qisas-Prinzip hätte Ameneh Bahrami einen Betrag in Hohe von umgerechnet 13 000 Euro an den Täter als Blutgeld zahlen müssen, um die Qisas-Strafe ausführen zu dürfen. Das
Opfer würde mit der Geldzahlung an den Täter bestraft; der Täter verlöre zwar das Augenlicht, würde aber finanziell belohnt. Nun bekommt Ameneh eine Million Euro, die Hälfte
des Blutgeldes eines männlichen Opfers, zugesprochen. Der Täter kommt bei Verzicht des Richters auf eine Haftstrafe frei und weilt anschließend als
potenzieller Wiederholungstäter in der Gesellschaft. Die Anzahl vermögender potenzieller Täter steigt dadurch, weil sie darauf spekulieren, sich mit Geld freikaufen zu
können.
Vergeben oder Verurteilen, beide Optionen potenzieren die Gewaltkultur im Iran. Im Falle von Ameneh wurde eine ganze medizinische Abteilung samt ihrer modernsten Geräten
mobilisiert, um mit großer Präzision die Augen des Verurteilten zu zerstören, ohne dass andere Gesichtspartien Schaden nehmen. So absurd ist die heutige Islamische Republik Iran.
Ameneh Bahrami hat mit ihrer humanen Entscheidung ein Exempel für die gesamte iranische Gesellschaft statuiert. Nun besteht sie auf dem vollen Blutgeld von zwei Millionen Euro, zu
zahlen vom Täter und seiner Familie. Das Scharia-Prinzip, das der Frau nur die Hälfte zubilligt, lehnt sie ab. "Ich bin ein Mensch.
Zwischen Mann und Frau gibt es keinen Unterschied. Ich will das volle Blutgeld, die zwei Millionen Euro."
Heftig beklagt sie sich über die internationalen Menschenrechtsorganisationen. Unermüdlich hätten diese an sie appelliert, Vergebung walten zu lassen. Sie selbst aber sei allein
gelassen worden und habe bislang alle Kosten selber tragen müssen. In Barcelona sei ihr die Wohnung gekündigt worden, weil sie die Miete nicht mehr zahlen konnte. Sie hat noch
immer eine kleine Chance, ihr Augenlicht durch kostspielige Operationen wiederzuerlangen.
Ameneh hat der apathischen iranischen Gesellschaft neue Energie und Frische eingehaucht. Am Sonntag zitierte sie ein altes iranisches Sprichwort als Begründung für ihre
Entscheidung: "Im Vergeben liegt ein Genuss, den es in der Rache nicht gibt."
Behrouz Khosrozadeh ist Politologe und Publizist iranischer Herkunft, er lebt in Göttingen.entnommen von der Berliner Zeitung, Autor Behrouz
Khosrozadeh